Die Urlaubslieblinge des Monats Juli 2023.
Lucia Bornhofen empfiehlt:
Natasha Pulley: Der Uhrmacher in der Filigree Street
London im Jahr 1884: Nathaniel Steepleton ist Telegraphist im Innenministerium. Er verfügt über reichlich logisches Denkvermögen, ein großes Herz, eine eher stoische Einstellung zum Leben – aber wenn er daran denkt, dass er mit Ende zwanzig nicht mehr viel weiterkommen wird im Leben, dann wird ihm trotz Stoizismus bang ums Herz.
Irische Nationalisten hatten im November einen Bombenanschlag für Mai angekündigt und damit alle in Angst und Schrecken versetzt - die Chefs im Innenministerium nehmen das so ernst, dass alle ihr Testament machen müssen. Thaniel kann sich noch genau an diesen Tag im November erinnern: Am Abend fand er auf seinem Bett eine wertvolle Taschenuhr und er hatte nicht herausfinden können, wie sie dorthin kam. Seitdem trägt er sie, auch wenn er ihren Mechanismus nicht versteht. Am angekündigten Datum bleibt es ruhig. Alle sind erleichtert und fast heiter, sie verabreden sich auf ein Pint im Pub gegenüber von Scotland Yard: Und dann geht spät die angedrohte Bombe im Yard hoch …
„Der Uhrmacher in der Filigree Street“: Das ist ein Buch, dass einen lange nicht loslässt. Zum einen, weil es von geschichtlichen Ereignissen erzählt, die hier eher nicht bekannt sind – vom japanischen Dorf im Hyde Park bis hin zu tiefgreifenden politischen Veränderungen im Japan des 19. Jahrhunderts. Zum anderen aber auch, weil das Personal – neben Steepleton und dem Uhrmacher Mori hat noch eine Physikerin namens Grace Carrow einen größeren Auftritt und es gibt einige interessante Nebencharaktere – so besonders dargestellt ist. Man weiß lange nicht, wer gut oder böse ist und ob das überhaupt wichtig ist. Die Autorin hat lange und sauber recherchiert, das ist wirklich interessant und spannend. Und die fantastischen Nettigkeiten machen es noch ausgesprochen reizvoll!
Verlag Klett-Cotta, übersetzt von Jochen Schwarzer, 978-3-608-98713-4, € 14,00
Hermien Stellmacher: Die Katze im Lavendelfeld
Alice sucht nach einem Haus in der Provence. Es soll nah an ihrem derzeitigen Wohnort sein und auf keinen Fall renovierungsbedürftig - das „Große Glück“, das sie zu Beginn des Buches besichtigt, stimmt mit keinem ihrer Punkte überein … Da sie in einer gemütlichen Wohnung zur Miete lebt und keine Gefahr besteht, dass sich das vorschnell ändern könnte, sucht sie sehr entspannt.
Und dann sind da noch Georges, der ein kleines, feines Restaurant betreibt und auch der beste Freund von Alices‘ Mann León ist. Georges erwartet einen Restaurantkritiker und hat nicht die kleinste Idee, wie er seine Karte umstellen soll – überhaupt mischt der erwartete Kritiker einiges auf. Und Alice Freundin Jeanine, über siebzig und ein Fels in der Brandung. Jeanine findet eine Katze – die titelgebende im Lavendelfeld -, kann sie aber nicht dauerhaft aufnehmen. Alice, die zu Hause schon zwei Katzen hat, übernimmt die kleine Trouvé, hat aber nicht damit gerechnet, dass Zazou und Colette das nicht einfach hinnehmen. Viel mehr Sorgen als die Katzen machen Alice aber die Aussetzer in Jeanines Gedächtnis …
Hermien Stellmacher erzählt von unterschiedlichen Menschen und ihren Bedürfnissen, von großer Freundschaft und Menschenfreundlichkeit. Aber auch von einem skrupellosen Vermieter, einem unglücklichen Erben und einem aufgelassenen, unverkäuflichen, prächtigen Hotel. „Die Katze im Lavendelfeld“ ist wunderbare Unterhaltung. Mit etwas Tiefgang und gut geeignet fürs Wohlbefinden, nicht banal und wirklich gut geschrieben. Das hier ist wirklich perfekte Kost für den Urlaub!
Insel Verlag, 978-3-458-36407-8, € 10,00
Petra Reski: Als ich einmal in den Canal Grande fiel
Dieses Buch lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Es ist eine Liebeserklärung an Venedig.
Petra Reski lebt dort seit über 30 Jahren, sie ist mit einem Venezianer verheiratet – ich glaube, sie fühlt sich mehr venezianisch als deutsch. Das merkt man jedem Satz, jeder kleinen oder größeren Geschichte … Ihr Schreiben ist bitter-süß, finde ich. Denn neben all dem Großartigen – sowohl menschlich als auch architektonisch oder künstlerisch Großartigem – scheint immer auch ihre Angst um Venedig durch. Die Stadt hat mit dem Klimawandel zu kämpfen, aber genauso auch mit der Gier großer Konzerne und Politiker. Aber weil da auch immer Witz und Selbstironie ist, ist „Als ich einmal in den Canal Grande fiel“ kein Abgesang!
Vielleicht kennen Sie Reski auch wegen ihres Schreibens gegen die Mafia. Auch das macht sie schon seit ungefähr 30 Jahren, sie prangert dabei immer wieder lasche Gesetze an. Obwohl sie stets intensiv recherchiert, ist sie deswegen schon mehrfach verklagt worden – und einige Prozesse hat sie auch verloren. In Italien stoßen die gerichtlichen Auseinandersetzungen um Reskis Mafia-Recherchen wiederholt auf großes Medienecho: Kläger, die in Kalabrien als Mafia-nah bekannt seien, würden in Deutschland als „erfolgreiche italienische Unternehmer“ geschätzt.[
Droemer Verlag, 978-3-426-30306-1, € 12,99
Susanne Martin empfiehlt:
Susanne Martin war viele Jahrzehnte Buchhändlerin in Stuttgart und ist auch heute noch mit Herzblut für Bücher in Stuttgart und im Internet unterwegs. Sie war in 2019 und 2021 schon einmal Gast beim traditionellen Urlaubsbuchabend.
Helga Glaesener: Die stumme Tänzerin
Im Hamburg des Jahres 1928 wird eine Tänzerin ermordet. Kriminalkommissar Martin Broder nimmt die Ermittlungen auf und ist nicht sehr erfreut, als ihm die resolute Josefine Erkens als Leiterin der weiblichen Kriminalpolizei (WKP) im Hamburger Stadthaus zwei Kommissarinnen zur Seite stellt. „Unfähige Weiber“ ist sein erstes Urteil, und auch mit den Kollegen haben die beiden sehr zu kämpfen. Doch sie überzeugen mit präziser Logik – und als eine weitere Frau stirbt, ist es Paula, die den Ermittlungen die entscheidende Wendung gibt …
Helga Glaesener fängt die Stimmung der 1920er Jahre gut ein – es gab damals erstaunlich selbstbewusste Frauen und ihre Paula, eine reiche Fabrikantentochter, ist eine davon. Sie gerät eher zufällig in diese Ermittlungen, aber als aufmerksame Beobachterin überzeugt sie bald Kommissar Broder. Allerdings gerät sie in Loyalitätskonflikt mit der WKP und auch das Verhältnis zu ihren Eltern, die ihr Arbeitsverhältnis ablehnen, wird immer schwieriger. Weil sie ihren Job nicht aufgeben will, kommt es schließlich zum Bruch.
Während Paula und Broder fiktive Figuren sind, gab es die Leiterin der weiblichen Kriminalpolizei, Josephine Erkens wirklich, in Hamburg war sie damals sehr erfolgreich. Sprachlich ist dieser Kriminalroman eher schlicht – aber die Schilderung des historischen Hintergrunds und vor allem die weibliche Sicht darauf sind sehr überzeugend. Und die Auflösung des Kirminalfalls ist nachvollziehbar und trotzdem sehr überraschend!
Rowohlt Verlag, 978-3-499-00488-9, € 12,00
Lucy Fricke: Die Diplomatin
Friederike, genannt Fred ist Diplomatin in Montevideo. Dort herrschen scheinbar paradiesische Zustände, sie hat nichts zu tun, außer kleine Entscheidungen bei den obligatorischen Empfängen zu treffen. Ruhe und Langeweile sind vorbei, als die Tochter einer einflussreichen Journalistin entführt wird, eine Sache, die nicht gut ausgeht. Fred wird zwangsversetzt, erst nach Berlin, dann nach Istanbul.
Auch dort herrscht oberflächlich heile Welt. Nach außen spricht man von offenem Dialog, konstruktiven Gesprächen und guten Handelsbeziehungen. In Wirklichkeit kann jede offene Äußerung das fragile Gleichgewicht ins Wanken bringen „Schon bei dem Wort Dialog stellten sich mir inzwischen die Nackenhaare auf“, sagt Fred zunehmend desillusioniert. Als dem Sohn einer im Gefängnis sitzenden Künstlerin der Pass abgenommen wird und er weder ausreisen noch seine Mutter besuchen darf, muss sie sich entscheiden, ob sie sich weiterhin diplomatisch verhalten will und kann …
Lucy Fricke erzählt mit wunderbar lakonischem Humor, pointierten Dialogen und sehr spannend. Im zweiten Teil entwickelt der Roman fast schon Thrillerqualitäten – Fricke beschreibt drastisch und nachvollziehbar, wie der türkische Geheimdienst Journalisten bespitzelt. Man merkt, dass die Autorin Istanbul sehr gut kennt: Sie hat dort im Rahmen eines Stipendiums mehrere Monate auf dem Gelände der Sommerresidenz der Deutschen Botschaft gelebt. Und auch die Hintergründe sind erlebt, sowohl die Überwachung bei Treffen als auch der digitalen Medien. Fricke hat in diesen Roman reale Fälle hineinverwoben (natürlich verfremdet und ohne Namen zu nenne), das alles verleiht dem Roman hohe Authentizität.
„Die Diplomatin“ ist ein hochspannender Roman über Diplomatie, die gerade jetzt so wichtig ist und die ihr Personal vor enorme Herausforderungen stellt. Absolute Leseempfehlung!
Ullstein Verlag, 978-3-548-06778-6, € 12,99
Dror Mishani: Vermisst
Avi Avraham ist Inspektor in Cholon, einer Vorstadt von Tel Aviv, und vor ihm sitzt eine Mutter, die ihren 16-jährigen Sohn als vermisst melden möchte. Ihr Sohn werde schon ein paar Stunden später wieder auftauchen – mit diesen Worten schickt er die Mutter nach Hause. Aber Ofer taucht nicht wieder auf und Avi beginnt zu ermitteln. Dabei unterlaufen ihm Fehler und alles wird nicht einfacher, als ihm sein Kollege Schärfstein an die Seite gestellt wird, der sich Avi stets überlegen fühlt und ihn das auch spüren lässt.
Seev, der Ofers Nachhilfelehrer war, bringt sich auf aufdringliche Weise immer wieder in die Ermittlungen ein. Avi verdächtigt ihn, etwas mit dem Verschwinden des Jungen zu tun zu haben, aber es stellt sich heraus, dass Seevs Verwicklung eine ganz andere ist, als die Ermittler glaubten …
Avi Avraham ist eine interessante Figur, starker Raucher, voller Selbstzweifel, aber hochgeschätzt von seiner Vorgesetzten, die ihn für einen hervorragenden Ermittler hält. Sein Kollege und Gegenspieler Schärfstein ist das genaue Gegenteil, energisch, karrierebewusst, faktenorientiert und mit wenig Interesse fürs Gefühlsleben anderer. Außerdem ist Schärfstein ein Askenazi, also ein Jude mit europäischen Wurzeln. Avi hingegen ist Mizrachi: dieser Bevölkerungsgruppe mit ihren nordafrikanischen Wurzeln fühlt sich Schärfstein überlegen.
Ein Krimi, der seine Spannung aus den menschlichen Tragödien und Abgründen bezieht, in die uns der Autor führt, unterfüttert mit solider polizeilicher Ermittlungsarbeit. Wer eine rasante Handlung sucht, wird hier nicht glücklich – aber wer gerne intelligente und dabei gut geschriebene Kriminalromane liest, dem sei dieser Ermittler ans Herz gelegt!
Diogenes Verlag, 978-3-257-24677-3, € 14,00
Ralf Schwob empfiehlt:
Stefan Schwarz: Das stimmt was nicht
Für Synchronsprecher Tom Funke läuft es optimal, denn er ist die deutsche Stimme des überaus beliebten und erfolgreichen US-Schauspielers Bill Pratt. Da das deutsche Publikum keine andere Stimme als die Tom Funkes akzeptiert, erhält er sogar eine Umsatzbeteiligung an den Filmen Bill Pratts. Leider läuft es in seinem Privatleben nicht ganz so gut: Frau Ulrike und Sohn Linus haben sich von ihm entfremdet – und so wird Tom überaus empfänglich für einen Flirt mit der hübschen Produktionsassistentin Birte. Als dann auch noch Bill Pratt anlässlich der Premiere seines neuen Films nach Deutschland kommt und sich die beiden Männer prächtig verstehen, glaubt Tom Funke aus seinem alten Leben ausbrechen zu müssen. Leider begeht er dabei den Fehler, dem sympathischen, aber auch extravaganten US-Schauspieler einen skurrilen Gefallen zu tun, dessen Folgen schon bald das schöne neue Leben des Tom Funke aus dem Gleichgewicht bringen werden …
Stefan Schwarz erzählt mit großem Witz von einem Leben, das durch einen vermeintlichen Skandal aus den Angeln gehoben wird, genüsslich jagt er seinen Protagonisten durch die mediale Empörungsmaschinerie, bis kein Stein mehr auf dem anderen bleibt.
Rowohlt Verlag, 978-3-7371-0093-9, € 18,00
Stephen Amidon: Das Ende von Eden
Vier Teenager feiern allein in einem Haus eine Party und am Ende der Nacht ist eine von ihnen tot. Die 19-jährige Eden wurde erschlagen und ihre Freunde beteuern, dass sie nichts wissen. Allerdings kehrt Edens Freundin Hannah in dieser Nacht vollkommen verstört nach Hause zurück, und der allseits beliebte Jack scheint auch etwas zu verbergen, genau wie der stille Christopher, von dem jeder weiß, dass er in Eden verliebt war. Erzählt wird das alles aus der Sicht jeweils eines Elternteils der Teenager, was die Spannung des Romans immens steigert, denn auch die Erwachsenen haben alle ihre Geheimnisse, die im Laufe der Ermittlungen ans Licht zu kommen drohen. Als die Polizei schließlich Christopher festnimmt, sind fast alle bereit, ihn als Täter zu akzeptieren – außer Hannahs Steifmutter, denn die hat ein Verhältnis mit Christophers Vater. Die Hinweise auf Christophers Täterschaft scheinen sich zunächst zu verdichten, aber dann taucht ein Zeuge auf, der in der Nacht vor dem Haus war und etwas beobachtet hat …
Durch die ungewöhnliche Perspektive der Eltern und des Zeugen erhält die Handlung immer wieder interessante Wendungen, bis hin zur unerwarteten, aber nicht unlogischen Auflösung, wer denn nun tatsächlich Eden erschlagen hat.
Droemer Verlag, Übersetzung: Alice Jakubeit, 978-3-426-28392-9, € 16,99
Khue Pham: Wo auch immer ihr seid
Die fast dreißig Jahre alte Kieu ist in Deutschland aufgewachsen und nur mäßig an ihrer vietnamesischen Herkunft interessiert. Dies ändert sich, als ihr Onkel Son aus Kalifornien der Familie mitteilt, dass Kieus Großmutter, die sie noch nie gesehen hat, im Sterben liegt. Kieus Vater reagiert emotionslos auf die Nachricht. Als die Großmutter aber kurz darauf stirbt, reist sie mit ihren Eltern nach Kalifornien und lernt dort den Teil der Familie kennen, von dem sie bislang kaum etwas wusste. Erzählerisch geschickt sind in diese Rahmenhandlung zwei weitere Erzählebenen integriert, welche die Geschichten von Onkel Son und Kieus Vater, Minh, erzählen. Während des Vietnamkriegs in den 60er Jahren kommt Minh zum Medizinstudium nach Deutschland und bekommt so einen anderen Blick auf seine Heimat und das Engagement der Amerikaner. Der jüngere Son hingegen erlebt nach Abzug der US-Truppen die Herrschaft der Kommunisten und flieht in die USA, später gelingt es ihm, seine Mutter und die kleine Schwester ebenfalls nach Kalifornien zu holen.
Khue Pham gelingt es mühelos auch tragischste Verwerfungen unterhaltsam und geschichtsträchtig zu schildern. Sie lässt einen so intensiv an den Lebenserfahrungen ihrer Protagonisten teilhaben, dass einfache Schuldzuweisungen gar nicht möglich sind.
Verlag btb, 978-3-442-77291-9, € 12,00